Der kleine Taghut

Ich erinnere mich. Es war finster. Wirbel. Eine Wellness-Oase im Dunkel. Gefängnis. Ein Widerspruch? Man wollte, dass ich mich wohl fühle. Es sei nur ein Zwischenlager, kein Endlager. Sagten sie. Anfangs hatte ich Angst. Allein in einer Röhre voller Flüssigkeit. Blubb. Furcht in den Herzkammern, die Ventile zitterten. Um mit Hilfe des Schlauchs zu atmen, brauchte es Übung. Die ersten Male wurde ich panisch, hyperventilierte. Ich zappelte, bis mich eine Stimme von außen beruhigte. Die Stimme der Wärterin. Mit der Ruhe kam das Vergessen.

Ich erinnere mich noch an die Gerichtsverhandlung. Nur an das Leben davor entsinne ich mich nicht. Als ich fragte, wer ich vorher gewesen sei, sagte man mir, nicht unfreundlich, aber bestimmt und mit drohendem Ton in der Stimme: „Das willst du nicht wissen!“ In der Verhandlung wurden Bilder an die Wand projiziert. War ich es, der alle diese Menschen – Menschen? – so zugerichtet hatte? In dem Land, in dem ich verurteilt wurde, galt noch die Todesstrafe. Ach, die Verstümmelungen, ich verstand sie nicht mehr, und die Verstümmelten? ich erkannte sie nicht wieder. Sie sagten, ich sei schuldig. Also …

Sie machten mir das Warten so angenehm wie möglich. Und doch konnten sie nicht verhindern, dass ich das Gefängnis als beklemmend empfand. Einsam röchele ich im Wasser, ohne reden zu können. Klaustrophobie und Paranoia: War ich wirklich schuldig? Sprache zwirbelt durch mein Rückgrat, sie ist die Reibungshitze in meinem Kopf, das Knistern, mein Gewitter, aber ohne sich zu artikulieren: Blubb. Die Blasen im Wasser sind meine Morsezeichen. ‚Ich will hier raus‘ knistert es. Auf das Ende zu warten zermürbt. Wenn es wenigstens ein Anfang wäre!

Ich sei der Taghut. Auf meine Frage, was Taghut bedeutet, antworteten mir die Richter – nichts. An den Toten hätten keine Gesichtszüge mehr erkannt werden können. Sagten sie. Das wog fast schwerer als das, woran ich mich nicht erinnern konnte: meine Tat. Die Zerstörung der Physiognomie, des fein ziselierten Fingerabdrucks, war mein eigentliches Verbrechen.

Das allmähliche Herabdimmen und Verblassen der Erinnerung, aller Erinnerung: ich schwebe weiß und leer im Hier und Jetzt. Blubb. Nichts bleibt übrig, nur das unsagbare Gefühl der Schubumkehr meines Kreislaufs. Der Kreiseltraum: Exorbitanter Sog der Zentrifugalen. Nur nicht aus der Bahn werfen lassen. Vergessen, ihr Götter, vergessen macht selbst, ich bitte euch, das Wörtchen ‚ich‘.

Dann – endlich – der Tag der Exekution. Das Warten hatte ein Ende. Es begann damit, dass der Stöpsel gezogen wurde und das Wasser ablief. Ins Zentrum wirbeln und kreiseln, dann ein plötzliches sich beschleunigendes Schlürfen – und Stille. Vom Schweben in die Schwere, von der Leichtigkeit in den Schmerz. Intensive Gerüche beim Verlassen des Zwischenlagers. Geräusche gurgelten. Swingende Fontanelle. Schrille Kontraktionen, durch Druck und Enge formende Röhrenwände: nur eine schmatzende Endlosschlaufe? Kopfüber in den Tag, in das gleißende Kunstlicht des Kreißsaals. Keine Sonnenbrille? No violence, no bloodshed! Die erschöpfte Wärme der Wärterin. Irgendjemand entfernte den Schlauch. Schrei, kleiner Taghut, schrei! Es ist vorbei … Auf ein Neues …

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