This Is My Design

ENGLISH VERSION

Companions, Lola & Pitty, Berlin 2019

Biographisches

Ich bin Photograph. Geboren 1964 irgendwo im Südwesten Deutschlands, als meine Eltern gerade on the road oder auf Durchreise waren. Ich befinde mich mit meiner Kamera in Symbiose. Seit 1984 wohne, arbeite und lebe ich in Berlin, ebenfalls in Symbiose.

Das Auge meiner Geburt, die Geburt meines Auges

Die Eigentümlichkeiten meiner Geburt haben mir das on the road ins mentale Fleisch gebrannt. Ich bin Passagier, Reisender, unterwegs, neugierig, ständig in Bewegung. Die Kehrseite davon besteht in einer tiefen Unruhe, einem Getriebensein. Gelassenheit und Geduld waren Eigenschaften, die ich erst mühevoll erlernen musste.

Wenn ich in andere Perspektiven und Welten eintauche, lasse ich mich von dem, was mir begegnet, in fast obsessiver Selbstvergessenheit vereinnahmen. Situationen aufsaugend, mich bedingungslos einlassend – das ist, trotz der vielen Verletzungen und Wunden, die meinen weiteren Lebensweg seit meiner Geburt prägten, geblieben und zeichnet meinen Fokus aus, dem ich durch die Linse Ausdruck verleihe.

„The crack is where the light gets in.“ – Leonhard Cohen

Sehen heißt Erkennen und erkannt werden. Leben und Existenz sind wie eine immer neue und in immer neuen Gestalten und Farben aufblühende Blume für mich, deren Duft stets von neuem in mich eindringt, mein Wesen ausfüllt und freisetzt. Mein Auge riecht, mein Auge ist Berührung, es hört, es spricht, es kaut und schmeckt, es küsst und lacht, es erkennt und sieht, es liebt und weint; manchmal spuckt es aber auch oder furzt –

Zwar schützt das Objektiv die Seele, die ich bin, es protegiert dieses merkwürdige Wesen, das sich in meinem Auge verkörpert und spiegelt, doch zieht das Objektiv meine Seele zugleich in das, was sie beobachtet, erfährt, erkennt, schmeckt, sieht und fühlt, hinein – weniger abrupt als ohne Kamera, aber doch stetig, gleichmäßig und unwiederbringlich. Tod und Wiedergeburt meines Auges, das sich stets ändert und erneuert. Eine Metamorphose, ein ständiges Häuten.

Berlin, mein Herz

Berlin ist meine Wahlheimat, ich liebe die Menschen, die hier leben, ich liebe die Mentalität in dieser Stadt, seine Geschichte, seine Abgedrehtheit, seine Erotik und seine manchmal auch von Gleichgültigkeit geprägte Offenheit gegenüber all jenen, die anders sind. Berlin hat Pflaster, wie man so schön sagt, und in dieses Pflaster habe ich mich unsterblich verliebt. Als mir eine digitale Spiegelreflexkamera geschenkt wurde, nutzte ich sie, um Berlin zu erkunden wie einen Körper, dessen Haut ich einatme, berühre, dessen Linien und Rundungen ich nachspüre. Der Körper lügt nicht. Das gilt für einen Stadtkörper genauso wie für jedes andere körperliche Wesen. Unser Körper speichert und reflektiert die Geschichte unserer Wunden, Träume, Gefühle, Begegnungen und Gedanken. – Vor allem Lost Places hatten es mir damals angetan. Dekadenz, Geschichte, Renaturierung und Transformation: Die Geschichte Berlins hat sich in verlassene, dem Verfall preisgegebene Orte in besonderer Weise eingeschrieben. Diese bleiben jedoch nicht ungenutzt; sie sind Treffpunkt, Symbol für Abenteuer und Verbotenes, und ein Platz, an dem die Symbole der Vergangenheit kommentiert und überschrieben werden, nicht zuletzt durch Streetart, ganz besonders aber durch die Natur, die sich jene Orte zurückerobert und wieder einverleibt. Wurzeln, die durch Böden durchbrechen, Äste, die durch Fenster ins Innere des Raums hineinragen und das Licht in merkwürdig schöner Weise brechen. Der Raum ist eine Haut. Als wollte die Natur den Ort in einem Akt der Penetration umarmen, in sich aufnehmen und verstoffwechseln. Durchdringung! Wie bei Blicken, wie beim Verschmelzen von zwei sich erblickenden Augen! Durchdringung und Verwandlung! Berührungen! Keine tiefe und echte Begegnung bleibt ohne Folgen! Dies gilt auch für die Gegenwart, wenn sie der Vergangenheit begegnet. 

Das gefesselte Auge

In Berlin habe ich meine ersten BDSM-Erfahrungen gemacht. Weibliche Dominanz und männliche Submission haben mich immer fasziniert und stets begleitet. Seit meiner Kindheit. Ähnlich steht es mit dem Thema der Geschlechtsidentität. Ich habe mich niemals nur als Mann gefühlt. Ich sehe mich und habe mich als flüssiges Wesen erfahren, das verschiedene Gestalten annehmen kann.

„Man wird nicht als Frau (oder Mann) geboren.“ – Simone de Beauvoir

Self-Portrait, Berlin 2018

Schon immer habe ich mich danach gesehnt, von Frauen überwältigt, penetriert, in Besitz genommen und vereinnahmt zu werden: mental, emotional, physisch.

Durchdringung in jeder nur vorstellbaren Form. BDSM bietet hierfür eine Fülle an Möglichkeiten, wenn etwa beim Peitschen, beim Spanking, die Energie meiner dominanten Partnerin auf mich übergeht und in mich eindringt. Letztlich läuft alles darauf hinaus, dass ihr einzigartiges Charisma, ihre Persönlichkeit von mir Besitz ergreift. Sie führt mich, sie leitet mich, sie kontrolliert mich, sie erzieht mich. Ihr gilt meine bedingungslose Hingabe. Von ihr bin ich gefesselt – gefesselt im allerbesten Sinn; gefesselt hin zur Freiheit! Ein Paradox? Keineswegs. In ihrem Glück und ihrer Lust spiegeln sich meine Lust und mein Glück; ein erfüllender spiralförmiger Kreislauf. Nie habe ich mehr gelernt und mich mehr weiterentwickelt als durch die Führung von Frauen. In meiner Intuition steht wie eingemeißelt: „Ihre Erotik ist meiner überlegen“. Und das ist gut so! Wenn die Verbindung stimmt, dann überwältigt mich ihre Persönlichkeit in kaum zu beschreibender Weise.

„The meeting of two personalities is like the contact of two chemical substances: if there is any reaction, both are transformed.“ – C.G. Jung

In ähnlicher Weise ist mein Auge von der Situation, von den Menschen, den Ereignissen gefesselt, die es einfängt. Doch mit mehr Distanz. Mein Herz liegt nicht so offen wie in einer BDSM-Beziehung. Ich zeige mich nicht so verletzlich, fragil, unsicher und verwundbar – wobei es eine wunderbare Erfahrung ist, so sein zu dürfen.

Und dennoch SEHE ich, was ich sehe, nicht nur mit dem Auge, ich sehe es mit dem Herzen, fühle und spüre unmittelbar die Atmosphäre von Menschen und Ereignissen und Dingen.

Nachdem ich Lost Places, Streetart und die Straßen Berlins fotografiert hatte, begann ich Fetische und Fetischisten zu fotografieren; ich wurde eingeladen, BDSM-Sessions und Fetisch-Parties zu dokumentieren. Ich spürte darin dem Menschlich-Allzu-Menschlichen nach. Sinnlichkeit, Erotik und Liebe! Tiefe Bindungen, Vertrauen, Hingabe und Verantwortungsbewusstsein in vielfältiger Perspektivik; Beziehungen zu sich selbst, zu anderen, zur Natur, zu den Dingen! Erfüllung, Heilung, Spiel! Von Lebenslust und menschlicher Wärme getragene Hierachien! Ängste! Neurosen! Leidenschaften! Die oft katalysatorische Bedeutung des Schmerzes! Verzweiflung, Verletzlichkeit, Fragilität, tiefe Freude und tiefe Trauer! Tränen, die lachen vor Glück; lachende Lippen, die weinen!

„Excessive sorrow laughs. Excessive joy weeps.“ – William Blake

All das fesselt mein Auge – auch, weil ich mich selbst darin spiegele. Auch weil ich dadurch mittelbar meinem eigenen Begehren und Verlangen, meinen Sehnsüchten und Erinnerungen begegne. Was ich sehe, trägt mich zu mir selbst; was ich in mir trage, macht aus meinem Auge ein verstehendes und lernendes Auge! Ich lasse mich ein wie Wasser in eine Badewanne! Sehen heißt lernen zu erkennen, wertzuschätzen und zu lieben.

Sehen ist eine Aufgabe, die das Unsichtbare sichtbar und das Sichtbare unsichtbar macht. Es verändert das Auge.

„It is our task to imprint this temporary, perishable earth into ourselves so deeply, so painfully and passionately, that its essence can rise again “invisibly,” inside us. We are the bees of the invisible. We wildly collect the honey of the visible, to store it in the great golden hive of the invisible.“ – Rilke

Und ist nicht das Bild selbst ein Fetisch, ein magischer Gegenstand, der verzaubernd und belebend wirkt und uns Kraft gibt? Jemand hat mal gesagt, wir sollten die Wirklichkeit in Fetische überführen, weil wir an ihnen das Geheimnisvolle, Schöne, Wunderbare und Verwundbare sinnlich und erotisch greifbar machen können.

„I am not interested in deconsecrating: this is a fashion I hate, it is petit-bourgeois. I want to reconsecrate things as much as possible, I want to re-mythicize them.” – Pasolini

Ab Minute 10 sagt Pittygraph in der ARTE-Folge von Streetphilosophy, was er über Fetisch denkt:

Die Linse als Brennglas

Konzipieren kommt aus dem Lateinischen. Es bedeutet ‘auffassen, in sich aufnehmen, schwanger werden, empfangen, etwas in einer bestimmten Formel aussprechen, sich etwas vorstellen’. Ich spreche etwas in einem bestimmten Bild, in einer Vision aus. Etwas, das ich empfangen habe, mit dem ich schwanger gehe, über das ich reflektiere, das ich für mich als existentiell empfinde, wird durch die Linse fokussiert, so dass es im editorischen Prozess zu einem Bild werden kann. Doch noch aus anderen Gründen ist es richtig, von konzeptueller Photographie zu sprechen, von Photographie, die schwanger geht! Beim Shooting selbst passiert mehr als nur das, was ich mit meiner Idee mitbringe. Es handelt sich um eine gemeinsame Geburt, es handelt sich um Teamwork! Was sich vor der Kamera abspielt, ist stets konkret, anschaulich, einzigartig: Personen, Stimmungen, Momente, Licht, Farben, Strukturen, Dinge sind unmittelbar beteiligt, sind selbst Ereignisse, Begegnungen. Im Grunde ist das Shooting eine Reise, ein Experiment, für das die Ideen, in die sich meine Weltsicht, mein Erfahrungsraum, meine Gefühls- und Gedankenwelt niederschlagen, den Rahmen stellt. Nicht mehr, nicht weniger: Es ist nur ein Framework. Denn beim Shooting selbst verändert sich alles nochmal! Genauso beim Edieren.

Dabei ist nichts unpolitisch. Wenn ich Transgender-Menschen darstelle, dann ist der wertschätzende Blick auf sie ein politisches Statement. Wenn ich mythische Gestalten, insbesondere Göttinnen oder Mischwesen wie Erinyen, Sirenen, Medusa, Persephone, Kentauren, in unserer heutigen dystopischen Welt vorstelle, dann ist auch das ein politisches Statement. Ähnlich steht es bei den Themen der Symbiose von Mensch und Tier, die nicht nur im BDSM-Petplay zum Tragen kommt.

Deutlich wird es beim Thema Femdom, Female Domination und Feminismus.

Feminism is a revolution, Madita, H. & Pitty, Berlin 2020

„Feminism is a revolution . . . Feminism is a collective adventure, for women, men, and everyone else. A revolution, well under way. A worldview. A choice. It’s not a matter of contrasting women’s small advantages with men’s small assets, but of sending the whole lot flying. And with that I bid you goodbye, girls, and a better journey.“ – Virginie Despentes

There is nothing not political in life. Wir sind alle in einem gesellschaftlichen Netz eingebettet. Wie also sollten wir nicht bewegt werden, wenn irgendwo in diesem Netz die Fäden in Schwingung geraten? Und wie sollten unsere eigenen Bewegungen und all das, was wir zu geben haben, jemals ohne Wirkung bleiben?

Zuguterletzt: Ich liebe das Leben. Ängste sind dazu da, überwunden zu werden. Ich liebe die Liebe und die Erotik. Oft ist Liebe nur ein Wort. Aber es wird zu einem mächtigen Wort, wenn es in die Sprache der Gesten, Mimik und Handlungen eingeht. Schönheit ist manchmal so schön, dass sie kaum zu ertragen ist. Glück ist manchmal so groß, dass es Tränen vergießt. Das Dunkle ist oft voller Licht. Vieles, was klar und deutlich erscheint, ist dunkel und abgründig. Im Licht dieser Erfahrung fotografiere ich.

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